Biologen finden immer mehr PlastikmĂŒll in der arktischen Tiefsee

Studie belegt, dass heute zweimal so viel Abfall auf dem Meeresgrund liegt, wie noch vor zehn Jahren.
Bremerhaven, 22. Oktober 2012. Der Meeresboden in der arktischen Tiefsee ist immer hĂ€ufiger von MĂŒll und Plastikabfall ĂŒbersĂ€ht. Wie Dr. Melanie Bergmann, Biologin und Tiefsee-Expertin am Alfred-Wegener-Institut fĂŒr Polar- und Meeresforschung in der Helmholtz-Gemeinschaft in einer Online-Vorabveröffentlichung des Fachmagazins Marine Pollution Bulletin berichtet, Ă€hnelt das MĂŒllaufkommen rund um das AWI-Tiefsee-Observatorium HAUSGARTEN inzwischen jenen Mengen, die in TiefseegrĂ€ben in der NĂ€he der portugiesischen Metropole Lissabon gefunden wurden.

FĂŒr die Studie untersuchte Dr. Melanie Bergmann rund 2100 Fotoaufnahmen vom Meeresboden am HAUSGARTEN, dem Tiefsee-Observatorium des Alfred-Wegener-Institutes in der östlichen Framstraße. So heißt der Seeweg zwischen Grönland und der norwegischen Insel Spitzbergen. „Den Anstoß fĂŒr diese Studie gab ein BauchgefĂŒhl. Bei der Durchsicht unserer Expeditionsaufnahmen hatte ich den Eindruck gewonnen, dass auf den Fotos aus dem Jahr 2011 öfter PlastiktĂŒten und andere MĂŒllreste auf dem Meeresboden zu sehen waren, als auf Bildern frĂŒherer Jahre. Aus diesem Grund entschloss ich mich, alle Fotos aus den Jahren 2002, 2004, 2007 und 2008 systematisch nach MĂŒll zu untersuchen“, erzĂ€hlt Melanie Bergmann von der HGF-MPG BrĂŒckengruppe fĂŒr Tiefseeökologie und Technologie.

Die Tiefsee-Forscher am Alfred-Wegener-Institut setzen bei Polarstern-Expeditionen zum HAUSGARTEN regelmĂ€ĂŸig ihr ferngesteuertes Kamera-System OFOS (Ocean Floor Observation System) ein. An der zentralen HAUSGARTEN Station schwebt es in einer Wassertiefe von 2500 Metern etwa 1,5 Meter ĂŒber dem Meeresgrund und macht etwa alle 30 Sekunden eine Aufnahme vom Boden unter sich. Seine Aufnahmen dienen den Tiefseebiologen vor allem dazu, VerĂ€nderungen in der Artenvielfalt von grĂ¶ĂŸeren Tiefseebewohnern wie Seegurken, Seelilien, SchwĂ€mmen, Fischen und Garnelen zu dokumentieren. FĂŒr Melanie Bergmann aber lieferten sie auch Belege fĂŒr die zunehmende Verschmutzung der Tiefsee: „Bei den Aufnahmen aus dem Jahr 2002 finden sich auf rund einem Prozent der Fotos MĂŒllreste, in erster Linie Plastik. Bei den Bildern aus dem Jahr 2011 machten wir dieselbe Entdeckung auf rund zwei Prozent der Fotos. Die MĂŒllmenge am Meeresgrund hat sich also verdoppelt“, sagt die Wissenschaftlerin.

Das Ergebnis „zwei Prozent“ mag im ersten Moment wenig Aufsehen erregen. Wie groß das wahre Ausmaß der Verschmutzung in der arktischen Tiefsee jedoch ist, zeigt ein Vergleich: „Der Arktische Ozean und vor allem seine Tiefseegebiete galten lange Zeit als entlegene, nahezu unberĂŒhrte Regionen der Erde. Unsere Ergebnisse belegen nun aber, dass zumindest rund um unser Tiefseeobservatorium inzwischen genauso viel PlastikmĂŒll auf den Grund des Ozeans gesunken ist, wie zum Beispiel in einem Meeresgraben nicht weit entfernt von der portugiesischen Metropole Lissabon“, erklĂ€rt Melanie Bergmann. Und dabei sei noch zu bedenken, dass sich in TiefseegrĂ€ben nach aktuellem Forschungsstand mehr Plastikabfall ansammele als an HĂ€ngen wie jenem, an dem sich der HAUSGARTEN befindet.

Woher die MĂŒllstĂŒcke am HAUSGARTEN stammen, kann Melanie Bergmann mithilfe der Fotos nicht bestimmen. Sie vermutet jedoch, dass der RĂŒckgang des arktischen Meereises in dieser Frage eine entscheidende Rolle spielt. „Die arktische Meereisdecke wirkt normalerweise wie eine Barriere. Sie verhindert, dass Wind MĂŒll vom Land aus in das Meer weht und versperrt den meisten Schiffen den Weg. Seitdem die Eisdecke jedoch regelmĂ€ĂŸig schrumpft und dĂŒnner wird, hat der Schiffsverkehr stark zugenommen. Wir beobachten inzwischen dreimal mehr Privatjachten und bis zu 36 mal mehr Fischereischiffe in dieser Region, als noch vor dem Jahr 2007“, erzĂ€hlt Melanie Bergmann. MĂŒllzĂ€hlungen an StrĂ€nden Spitzbergens hĂ€tten zudem ergeben, dass der dort angespĂŒlte Abfall hauptsĂ€chlich von Hochseefischern stamme.

Die Leidtragenden dieser zunehmenden Verschmutzung sind vor allem die Tiefsee-Bewohner. „Fast 70 Prozent der von uns entdeckten Plastikreste waren auf irgendeine Weise mit Tiefsee-Organismen in Kontakt gekommen. Wir fanden zum Beispiel hĂ€ufig PlastiktĂŒten, die sich in SchwĂ€mmen verfangen hatten, ein KartonstĂŒck, das von Seelilien bewachsen war, sowie eine Flasche, auf der sich ebenfalls eine Seelilie angesiedelt hatte“, erzĂ€hlt Melanie Bergmann.
Kommen SchwĂ€mme oder andere Suspensionsfresser mit Plastik in BerĂŒhrung, zieht dies vermutlich Verletzungen ihrer KörperoberflĂ€che nach sich. Die Folge: Die Bodenbewohner können weniger Nahrungspartikel aufnehmen, wachsen deshalb langsamer und vermehren sich vermutlich seltener. Auch die Atmung könnte behindert werden. Zudem enthĂ€lt Plastik auch immer chemische Zusatzstoffe, die auf ganz unterschiedliche Weise toxisch wirken. „Aus anderen Untersuchungen weiß man, dass PlastiktĂŒten, die auf den Meeresboden sinken, die Gas-Austauschprozesse an dieser Stelle verĂ€ndern können. Der Sediment-Boden darunter wird dann zur sauerstoffarmen Zone, in der nur wenige Organismen ĂŒberleben“, sagt Melanie Bergmann. Andere Lebewesen wiederum nutzten den MĂŒll als Hartsubstrat und Fundament. „Auf diese Weise können sich Arten ansiedeln, die vorher kaum geeignete Lebensbedingungen vorgefunden hĂ€tten. Das heißt: Der Abfall könnte langfristig die Artenzusammensetzung in der Tiefsee verĂ€ndern“, so die Forscherin.

Angesichts der weitreichenden KlimaverĂ€nderungen in der Arktis wollen Melanie Bergmann und Kollegen ihre Forschungsprojekte zum Thema „MĂŒll im Meer“ ausbauen: „Unsere bisherigen Ergebnisse aus der Framstraße sind lediglich eine Momentaufnahme und spiegeln jene Funde wieder, die wir mit bloßem Auge erkennen konnten“, erklĂ€rt die Wissenschaftlerin. In den Fokus rĂŒckt derzeit zum Beispiel die Frage nach der Belastung der Tiefsee durch sogenannte Mikroplastik-Partikel. „Auf der vergangenen Arktis-Expedition des Forschungsschiffes POLARSTERN haben wir erstmals Proben genommen, die wir zusammen mit AWI-Kollegen aus Helgoland auf diese winzigen Plastikteilchen untersuchen werden“, sagt Melanie Bergmann. Auf dieser Expedition haben sie und belgische SĂ€ugetier- und Vogelbeobachter außerdem 32 MĂŒllstĂŒcke gezĂ€hlt, die an der WasseroberflĂ€che trieben. Demzufolge ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Forscher weiteren MĂŒll in der Tiefsee finden werden, groß. Melanie Bergmann: „Plastikteile, die in die Tiefsee hinabsinken, zerfallen nicht so schnell in Mikropartikel wie es zum Beispiel am Nordseestrand der Fall ist. Dazu fehlen in 2500 Metern Tiefe sowohl das Sonnenlicht als auch die stĂ€rkere Wasserbewegung. Stattdessen ist es dort unten dunkel und kalt. Unter diesen Bedingungen kann Plastikabfall wahrscheinlich Jahrhunderte ĂŒberdauern.“

Glossar:
HAUSGARTEN: Der HAUSGARTEN ist das Tiefsee-Observatorium des Alfred-Wegener-Institutes in der östlichen Framstraße. Es besteht aus 16 Stationen, die Wassertiefen von 1000 bis 5500 Meter umfassen. Seit dem Jahr 1999 werden an diesen Stationen alljĂ€hrlich in den Sommermonaten Probennahmen durchgefĂŒhrt. Der ganzjĂ€hrige Einsatz von Verankerungen und FreifallgerĂ€ten, die als Observationsplattformen am Meeresboden dienen, ermöglicht es, saisonale VerĂ€nderungen zu erfassen. Unter Einsatz eines ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugs (Remotely Operated Vehicle, ROV) werden in regelmĂ€ĂŸigen ZeitabstĂ€nden gezielte Probennahmen vorgenommen, autonom messende Instrumente positioniert oder betreut, und in situ Experimente durchgefĂŒhrt. Der HAUSGARTEN reprĂ€sentiert eine der SchlĂŒsselregionen im EuropĂ€ischen Network of Excellence ESONET (European Seas Observatory Network) und ist Mitglied im deutschen Long Term Ecological Research-Netzwerk (LTER-D).

Mikroplastik-Partikel: Als Mikroplastik-Partikel werden mikroskopisch kleine Plastikteilchen bezeichnet, die entstehen, wenn PlastikmĂŒll im Zuge chemischer und physikalischer Alterungsprozesse in immer kleinere Fragmente zerbricht. Aufgrund ihrer GrĂ¶ĂŸe bergen Mikroplastiks die Gefahr, sowohl von Kleinkrebsen, Fischlarven und anderen Organismen, die am Anfang der Nahrungskette stehen, als vermeintliches Futter gefressen zu werden. So wurden Mikroplastiks bereits in MĂ€gen des kommerziell befischten Kaisergranats gefunden. Neben rein physikalischen SchĂ€digungen ist auch die Aufnahme und Anreicherung von Schadstoffen aus den Mikroplastik-Partikeln zu erwarten. Wie sich dies auf den einzelnen Organismus sowie auf die weiteren Glieder der Nahrungskette auswirkt, ist bislang nicht untersucht. Es sind jedoch negative Folgen zu befĂŒrchten.


© Dr. Melanie Bergmann, Alfred-Wegener-Institut

(Tel: +49(471)4831-1739, Email: Melanie.Bergmann(at)awi.de)
http://www.awi.de/, auch auf Twitter und Facebook

Originalartikel: Melanie Bergmann / Michael Klages (2012): Increase of litter at the Arctic deep-sea observatory HAUSGARTEN. Marine Pollution Bulletin, online abrufbar unter http://dx.doi.org/10.1016/j.marpolbul.2012.09.018



Copyright: © Eigenbeiträge der Autoren (22.10.2012)
 
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